Traditionellerweise wird die bebaute Wohnumwelt den vorhandenen Ressourcen und Möglichkeiten entsprechend möglichst optimal den lokalen Bedürfnissen angepaßt. Wir Menschen nutzen Schlafstätten, Räume, Arbeitsplätze, Wege und Plätze und dies alles wiederum reflektiert die kulturellen Merkmale der jeweiligen sozialen und ethnischen Gruppen. In der Theoriediskussion wurde seit Ende der sechziger Jahre die Frage nach der wechselseitigen Beeinflussung von Wohnumwelt und Kultur von Architekten wie Amos Rapoport, Christopher Alexander und Paul Oliver intensiv verfolgt. 1)
Mit den Jahren haben sich auch verschiedene andere Disziplinen aus den Sozialwissenschaften mit diesem Thema auseinandergesetzt, und es entstanden vielerlei methodologische und theoretische Konzepte zum Studium und der Analyse von Architektur. 2)
In dieser Tradition steht auch das Buch der Archäologin und Anthropologin Susan Kent, die an der Old Dominion University in den USA lehrt. 1993 erschien nun endlich die erschwingliche Paperback-Ausgabe von ihrem 1990 in der Reihe "New Directions in Archaeology" der Cambridge University Press herausgegebenem Band "Domestic Architecture and the Use of Space". In diesem Werk legen neun Autoren mittels unterschiedlicher theoretischer Ansätze Erklärungsmuster für das Wechselfeld lokaler Wohnarchitektur und kulturbedingter Raumnutzung dar. Ziel von Susan Kent ist es, durch eine interdiziplinäre Vorgehensweise und den Vergleich einer Vielzahl von Kulturen (cross-cultural) zu allgemeingültigen Aussagen über die jeweils speziellen landestypischen Architektur- und Baustile in Bezug zur jeweiligen Raumnutzung zu gelangen. Obwohl sich dieses Buch besonders an Archäologen wendet, soll es eine disziplinübergreifende Diskussion zum Thema Wohnen anregen.
Es werden daher neben einigen archäologischen Studien vor allem ethnologisch und historisch vergleichende Beiträge vorgestellt. In ihrem Einführungsartikel "Activity areas and architecture: an interdisciplinary view of the relationship between use of space and domestic built environments" geht Susan Kent auf die verschiedenen Ansätze ein, die von den in diesem Band vertretenen Autoren verfolgt werden. Sie skizziert noch einmal bereits in früheren Artikeln definierte Punkte ihres cross-cultural approach und vergleicht in einem weiteren Kapitel "A cross-cultural study of segmentation, architecture, and the use of space" dreiundsiebzig Gesellschaften hinsichtlich ihrer räumlichen Organisation. Sie stellt fest, daß Gesellschaften, je komplexer diese soziopolitisch organisiert sind, desto differenzierter ihren Raum aufteilen und speziellen Nutzungen unterwerfen. Im Gegensatz dazu findet sich in weniger komplex strukturierten Gesellschaftsformen oftmals eine multifunktionale Nutzung in einem weniger segmentierten Raumkonzept. Als konkretes Beispiel stellt uns Kent drei Fallbeispiele von sozialen Gruppen dar, die sie durch eigene Feldforschungen näher kennenlernte. Sie untersuchte dabei die räumlichen Strukturen bei den Euroamerikanern, die eine starke Gliederung der Räumlichkeiten mit jeweils festgelegten Funktionen besitzen, den Navajo Indianern, bei denen es eine männlich/ weibliche Raumaufteilung gibt, sowie den Basarwa (Buschmännern) in der Kalahari Botswanas, bei denen sich eine gleichberechtigte Raumnutzung ohne hierarchische Gliederung findet.
Das zweite Kapitel von Altmeister Amos Rapoport bildet die eigentliche theoretische Basis des Buches. Mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung stellt er das wichtigste von ihm entworfene theoretische und methodische Handwerkszeug noch einmal zusammen, um das vielfältige Beziehungsmuster zwischen dem kulturbedingtem Verhalten der Menschen und ihrer Architektur aufzuzeigen. Rapoport sieht eine starke Wechselbeziehung zwischen dem, was er als activity systems und systems of settings bezeichnet. Nach den beiden Einführungen in die Theoriediskussion von Susan Kent und Amos Rapoport bilden vier ethnographische, bzw historische Studien sowie vier archäologische Beiträge den Hauptteil des Bandes.
In dem Artikel von Susan Kus und Victor Raharijaona über die räumliche Ordnung der Betsileo in Madagaskar wird ein struktural-symbolischer Ansatz verfolgt, in dem versucht wird, das Betsileo-Haus als Spiegelbild der emisch erfahrbaren Kulturordnung aufzuzeigen.
Im Kapitel "The built environment and consumer decisions" schlägt Richard Wilk vor, die Wohnungen der Kechki-Maya von Belize als bewußt individuell gestaltete Konsumartikel zu sehen. Je nach wirtschaftlicher Lage dienen diese dann neben ihrer Basisfunktion auch als Wertanlage für die Familiengemeinschaft, so daß die Wohnung oft besonders exclusiv eingerichtet wird.
Donald Sanders schreibt im Folgekapitel über: "Behavioral conventions and archaeology: methods for the analysis of ancient architecture". Mittels eines semiotischen und umweltpsychologischen Ansatzes versucht er die räumliche Aufteilung im alten Kreta zu erläutern. Er geht davon aus, daß die Wohnumwelt vielfältige Hinweise auf den privaten, personal space gibt. Sich an ethnographischen Beispielen orientierend, versucht Sanders auch zur Erklärung prähistorischer Kulturen der Frage nach dem Bedeutungszusammenhang in der Wohnumwelt nachzugehen. Privatheit äußert sich seiner Ansicht nach immer auch in Territorialität, die durch sichtbare und unsichtbare Raumabgrenzungen, allerlei fließende Übergänge, aber auch durch Geruchzonen etwa geprägt wird.
Roderik Lawrence stellt in seinem Beitrag "Public collective and privat space: a study of urban housing in Switzerland" mittels eines ethnohistorischen Ansatzes den Wandel der Werte im Wohnen und die jeweilige Nutzung von Gemeinschaftsplätzen- Zwischenzonen und Innenhöfen von Genf und anderen Orten zwischen 1860 und 1960 dar.
Michael Jameson wiederum zeigt in seinem Artikel "Domestic space in a Greek city-state", daß lokale Wohnformen nicht ohne die Kenntnis sozioökonomischer Strukturen und Prozesse analysiert werden können. Das Studium der Sozialorganisation ist für ihn daher eine wichtige Voraussetzung, um einen Zugang zu historischen Kulturen zu finden. Hierfür nutzt er neben den Grabungsergebnissen auch alte Textquellen. Nur so scheint es ihm möglich, die innere Organisation des klassisch griechischen Hauses im Wechselspiel der Familienbande sowie der weiteren Sozialbeziehungen zu erklären und ihre symbolischen Bedeutungen zu erkennen.
Das Kapitel von G. Bawden, "Domestic space and social structure in pre-Columbian northern Peru" macht noch einmal den starken Zusammenhang räumlicher Organisation von Wohnbauten und soziopolitischer Gegebenheiten anhand einer archäologischen Untersuchung im Moche Tal im nörlichen Peru deutlich, in welchem Siedlungsüberreste aus der Zeit von ca. 500 v. Chr. bis etwa 1500 n.Chr. gefunden wurden. Vor allem in den späteren Perioden (Moche und Chimu) finden sich dort hochkomplex angelegte und stark segmentierte Raumkonzepte, die auf ein pyramidiales Gesellschaftssystem mit einem alles überragenden Herrscher hinweisen. Die räumlichen Verhältnisse der Wohnbauten reflektieren dabei direkt den Charakter der Sozialstruktur.
Das Buch ist dank seiner gut recherchierten Beiträge und vieler Illustrationen ein wichtiger Meilenstein einer leider hierzulande viel zu wenig beachteten Disziplin. Auch wenn sich das Werk, welches ja in der Serie "New Directions in Archaeology" erschienen ist, besonders an deren Leser wendet, so ist die kulturell unterschiedliche Nutzung von Raumkonzepten auch für die Ethnologie von hohem Interesse. 3)
Die räumliche Nutzung und Interaktion spiegelt auf vielen Ebenen die Kultur der jeweiligen Gesellschaft wider. So hilfreich und interessant dieser Band und der interkulturell vergleichende Ansatz von Susan Kent auch ist, so vorsichtig müssen wir doch mit verallgemeinernden Aussagen über die unmittelbaren Zusammenhänge komplexer oder weniger komplexer Wohnformen und der entsprechenden Gesellschaftsstruktur sein. Auch wenn verallgemeinernde Vergleiche bis zu einem gewissen Grade möglich sind, so gibt es doch "Komplexitäten" in den Denk- und Raumvorstellungen beispielsweise der Buschleute, die der "Komplexität" etwa eines durchschnittlichen Euroamerikaners, sicherlich in nichts nachstehen dürften. Gerade in der Ethnologie haben wir es mit so vielen verschiedenen kulturellen Ausprägungen zu tun, daß wir stets erkennen müssen, daß selbst wenig komplex erscheinende Kulturen auf uns möglicherweise unbekannten Ebenen weitaus komplizierter strukturiert sein können als wir heute zu denken in der Lage sind.
Andus Emge, Köln
1) Alexander, C.: Notes on a Synthesis of Form; 1964. Rapoport, A.: House Form and Culture; 1969. Oliver, P.: Shelter and Society; 1969.
2) Natürlich gehen die Anfänge der Forschung viel weiter zurück. Lewis Henry Morgan setzte sich bereits 1881 in seiner Studie: The Houses and Houselife of the American Aborigine intensiv mit diesem Thema auseinander. 1888 tat dies auch Franz Boas, der in seiner Studie the Central Eskimo über die Techniken und Herstellungsweisen sowie Bedeutung und Gebrauch der Wohnformen der Eskimo berichtete. Neben den im Text bereits erwähnten Architekten untersuchten auch die Geographen die traditionellen Wohnformen (Kniffen, F.: Folk housing: key to diffusion. Ann. Assoc. Am. Geogr. 55(4):549-77;1965). Auch Umweltpsychologen wie Proshansky, H., Ittelson, W. oder Rivlin, L. widmeten sich nun verstärkt diesem Thema (Environmental Psychologie: Man and his physical Setting; New York, 1970). E.T. Hall entwarf 1966 seine Theorie der Proxemic, die sich insbesondere mit dem beobachtbaren Raum-Menschverhalten auseinandersetzt (Hall, E.T.: The hidden Dimension. Garden City, NY: Doubleday; 1966). Unter den Ethnologen beschäftigt sich vor allem James Goody mit Haushaltsstudien und weist auf die außerordentliche kulturelle Bedeutung der Behausung und ihrer Grenzen hin (1958/1971 The fission of domestic groups among the LoDagaba. In: The Developmental Cycle in Domestic Groups). Auf die Zusammenhänge zwischen räumlichen Ordnungen und Ritualen weist vor allem Victor Turner in seinem 1967 erschienenen Werk: Forest of symbols hin. Während A. Giddens 1979/84 The constitution of society: Outline of the theory of structuration eine Segmentierungstheorie entwirft, in der er fordert, daß die Beachtung individuellen Verhaltens und räumlicher Beziehungsstrukturen mehr in die Sozialtheorien miteinfließen soll, formulieren Mc. Guine & Schiffer 1983 ihre theory of architectural design (Journ. Anthrop. Archaeolog. 2:227-303). Aber auch die Beiträge der französischen Ethnologen Claude Levi Strauss und Pierre Bourdieu (Das kabylische Haus und die verkehrte Welt; 1971) sollen nicht unerwähnt bleiben, die mit einer strukturalistischen Betrachtungsweise Licht in die symbolischen Ordnungen bringen wollen. Auch Michel Foucault äußert sich 1970 über die Bedeutungszusammenhänge des Raumes in seinem Buch: Die Ordnung der Dinge. Alle oben genannten Vertreter können hier nur als Beispiele für eine weitaus größere Anzahl von Wissenschaftlern dienen, die sich an der Forschung des Habitat beteiligen.
3) Weitere Besprechungen zu diesem Buch: Adler, Mike in: Journal of Anthropological Research; Vol 48 (4), 1992; Lawrence, Denise in: Environment and Behavior; July 1991; Shaffer, Garry in: American Anthropologist; Vol . 94 (1) , 1992. 5